Legende und Mythos — ein Thema für die Kommunikation?

(Auszug)

Jörg Christoffel und Manfred Piwinger

(Der vollständige Beitrag inkl. Literaturangaben ist erschienen in: Bentele, Günter/Piwinger, Manfred/Schönborn, Gregor (Hrsg.): Kommunikationsmanagement (Losebl. 2001 ff.), Art.-Nr. 8.43, Köln 2010)

1 Einleitung

Systematische und nachhaltige Kommunikation von Unternehmen (Öffentlichkeitsarbeit, Werbung, personale Kommunikation etc.) will möglichst wirkungsvoll sein. Im Idealfall kann eine erwünschte Botschaft sich in einem solchen Maß verselbständigen, dass sie zum positiven Selbstläufer wird. Speziell bei der Markenkommunikation sind Beispiele dafür bekannt, wie bewährte Erfindungen so in den selbstverständlichen Sprachgebrauch übergehen, dass aus der ursprünglichen Firmenkommunikation ein Teil der gegenwärtigen Sprache wird: Das "Tempo" als Synonym für ein Papiertaschentuch liefert so ein Exempel. Auch das amerikanisch-englische Verb "to hoover" (= staubsaugen) liefert ein Beispiel. Ähnlich steht es mit "to xerox" (fotokopieren).

Der Stoff, aus dem Legenden sind

Aber es gibt noch eindrucksvollere Mechanismen, wie sich aus einer Begebenheit, einem Vorfall oder einer Tat eine Geschichte verselbständigt, die noch lange über das Ereignis hinaus eine Nachwirkung hat: die Legende, beispielsweise die "Fußballlegende" Pelé oder die "Boxlegende" Muhammad Ali. Man würde wohl auch nicht zu weit greifen, wenn man einen herausragenden Politiker wie Nelson Mandela inzwischen als lebende Legende bezeichnet. Auch eine einzelne Tat kann legendär sein: Man denke an Mahatma Gandhis Friedensmarsch für die Freiheit Indiens. Auch Helmut Schmidts Leistung während der großen Flut in Hamburg hat inzwischen Züge der Legende — das lässt sich unter anderem daran ablesen, dass daraus der Stoff für einen erfolgreichen Film geworden ist.

Im industriellen Umfeld und in der Naturwissenschaft sind "legendäre" Persönlichkeiten ebenfalls reichlich bekannt. Häufig handelt es sich dabei um (Gründer-)Persönlichkeiten und Wissenswegbereiter, aus deren Wirken sich die Entstehung namhafter Firmen oder Durchbrüche einzelner Technologiezweige ableitet. Auch wenn die heutige industrielle Welt eher arm an "Persönlichkeiten" erscheinen mag, treten doch von Zeit zu Zeit einzelne Namen und Personen hervor, die dem Wesen nach die Voraussetzungen für eine Legendenbildung erfüllen. Steve Jobs (Steven Paul Jobs, CEO Apple Inc.) charismatisches Auftreten, seine inszenierte Aura und symbolträchtigen Handlungen beflügeln an der Börse messbar den Wert seines Unternehmens. Aus der Beobachtung solcher andauernden und unter Umständen generationsübergreifend positiven Wirkungen ergeben sich Fragen: Was kann man aus dieser Mythen- oder Legendenbildung für die Kommunikation lernen? Welche Mechanismen sind am Werk? Lässt sich bei der Bildung von Legenden gar ein wiederkehrender Mechanismus erkennen? Falls das so ist, lässt er sich möglicherweise steuern? Und wenn ja, mit welchen Maßnahmen kann das gelingen?. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Legendenbildung eine anarchische, das heißt nicht kontrollierbare Seite hat. Wer oder was zur Legende oder zum Mythos wird, unterliegt vielen Einflüssen — und auch einer kulturellen Prägung.

2 Der Begriff Legende

Von der Heiligen- zur Lügengeschichte

Eine "Legende" ist formal und literaturwissenschaftlich gesehen eine kurze "unverbürgte Erzählung". Historisch literaturwissenschaftlich ist es die Lebensgeschichte eines Heiligen, hat also religiöse Bedeutung. In der Regel ist heute weder die formale noch die literaturwissenschaftliche Bedeutung gemeint, wenn wir von Legenden sprechen. Eher ist damit eine "erstaunliche, unglaubliche, unwahrscheinliche Erzählung" gemeint (Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 13, S.206). Gelegentlich wird der Begriff Legende auch eindeutig abwertend benutzt, um die mangelnde Überprüfbarkeit oder Glaubwürdigkeit einer Erzählung herauszustellen. In der Literatur zum Thema Legende verweist beispielsweise Rosenfeld auf diesen Aspekt (Rosenfeld 1982, S. 2). Zum Wahrheitsgehalt der Legende nur so viel: Sie stellt "idealisierend den Wesensgehalt bedeutsamer Gestalten oder Ereignisse" dar (ebd. S. 5). Häufig dienen die Etiketten "Legende" und vor allem das Adjektiv "legendär" heutzutage dazu, einer Tat oder einem Vorgang besondere Bedeutung zuzumessen.

3 Abgrenzung zum Mythos

Schwierige Unterscheidung

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird zwischen den Begriffen Legende, Sage und Mythos nicht eindeutig differenziert. Selbst in der akademischen Welt tut man sich mit der Abgrenzung schwer. Als kleinsten gemeinsamen Nenner kann man festhalten, dass Sagen oft Geschichten über die Entstehung oder Ursache von Ereignissen oder Zuständen sind (sogenannte äthiologische, also erklärende Begründungen in Form von Geschichten), während Mythen altüberlieferte Göttersagen (etwa Schöpfungsmythen) sind. Mythen haben viel mit Ursprung zu tun (Kerenyi 1967, S.235), mit Urzeitlichem. Diese Definition mag unwissenschaftlich vereinfachen, für die Zwecke dieser Abhandlung soll sie genügen.

Boelderl beschreibt das so, dass Mythen ortlos (ohne identifizierbare Person) und zeitlos sind (Boelderl 2004, S. 469 ff.). Gleichwohl schreibt er ihnen eine "soziale, Identität und Gemeinschaft stiftende Funktion" zu (ebd. S. 471). Barthes dagegen formuliert das wesentlich allgemeiner. Er bezeichnet Mythen als "ein Mitteilungssystem, eine Botschaft" (Barthes 1992, S. 85). Bei einem Mythos ist "das Wirkliche in den Stand der Aussage" übergegangen, hat also eine besondere Bedeutung gewonnen (ebd. S. 86).

Ganz ähnlich wie bei der Legende kann auch der Begriff Mythos zweischneidig sein, nämlich dann, wenn er anstatt einer besonderen Bedeutung eine besondere Unglaubwürdigkeit benennen will. Eliade verweist darauf, mit welcher Entschlossenheit sich christliche Theologen einer "mythologischen" Dimension Jesu verweigert haben (Eliade 1988, S.158).

Der Mythos im alltäglichen Sprachgebrauch

Vom alltäglichen Sprachgebrauch herkommend, wird mit einem Mythos wohl ein höherer Grad der Entrückung vom Alltäglichen bzw. eine stärkere Überhöhung von Protagonisten verbunden. Gleichzeitig transportiere der Mythos eine Weltanschauung (Brugger 1974, S. 242). Anders als bei der Legende muss der Mythos keinen unmittelbaren Wahrheitskern enthalten, sondern kann stereotypisch eine weltbegründende Aussage in Form einer Geschichte machen. Welche Relevanz der Mythos für ein Individuum hat, hängt davon ab, ob das Individuum an den Mythos glauben möchte. Auch hier zeigt sich wieder die Nähe zum Transzendenten. Will man daher im Umkehrschluss etwas als ein Hirngespinst entlarven, so kann das mit der Formulierung "Das ist ein Mythos!" geschehen. Gehört wird in diesem Fall: "Das ist doch nur ein Mythos" — eine Geschichte eben. Für den allerdings, der an den Mythos glaubt, kann er durch ritualisierte Wiederholung und Einbindung in einen Kultus geradezu "einen apodiktischen Wert" haben (Eliade 1988, S. 137).

Griffige Beispiele für einen klassischen Mythos ist die Geschichte des Ikaros. Aber auch die mythische Person des König Artus liefert ein Beispiel für die Entstehung, die Faszination und Langlebigkeit eines Mythos. Ähnliches gilt für den abstrakteren Mythos vom edlen Ritter, der den Untergang seiner Protagonisten erstaunlich lange überlebt hat. Wenn man von christlich fundamentalistischen Glaubensgemeinschaften einmal absieht, dürfte eine große Mehrheit von uns auch den Mythos vom Paradies als Beispiel akzeptieren.

Bis heute bleibt dem Mythos seine Nähe zum Religiösen. Bezeichnenderweise gab und gibt es eine Form der Bibelwissenschaft, die manche Ereignisse, wie etwa die Sintflut, die Zerstörung von Sodom und Gomorra, den Kampf Davids gegen Goliath oder die sieben Plagen historisch zu verorten sucht, um beispielsweise dem Mythos der Sintflut als Ausdruck eines kollektiven Gedächtnisses einen Sitz in der Geschichte zu geben. Ein schwieriges Unterfangen, da Mythos und Vernunft unterschiedliche Denkmodelle sind.

Wenn heute in der Kommunikationswissenschaft von Mythen die Rede ist, dann vermutlich eher von den sogenannten "Mythen des Alltags" (Barthes 1992). Ob aber beispielsweise ein Auto wirklich ein solcher Alltagsmythos sein kann, ist eine Sache der Definition. Dass ein Objekt begehrenswert ist, erscheint nicht unbedingt als Qualifikation für einen Mythos. Selbst in einer Zeit religiöser Verarmung wäre es wünschenswert, den Begriff Mythos nicht so inflationär zu verwenden wie das heute der Fall ist. Nicht jede Marke ist gleich ein Mythos.

Kommunikationswissenschaftlich kann man vermuten, dass eine Analyse von Mythen im ursprünglichen Sinne weniger praktisch nutzbare Handlungshinweise ergibt als die Beschäftigung mit den "weltlicheren", im Hier und Jetzt verorteten Legenden oder Alltagsmythen.

Auf ein rabenschwarzes Beispiel für die Wirkung intendierter Mythenbildung soll noch hingewiesen werden: Die faschistische Ideologie der Nationalsozialisten und deren Mythen (arische Herkunft, Heldentum, Auserwählungsgedanke, Personenkult in Anlehnung an Sagengestalten) in Zusammenhang mit der brutalen, legislativ, exekutiv und judikativ gnadenlos durchgesetzten Deutungshoheit des Staates zeigt, wohin intendierte Mythenbildung führen kann, wenn sie systematisch betrieben und jede Kritik am Mythos verboten wird.

4 Entstehungsmechanismen

Am Anfang steht die Tat

Am Anfang einer Legendenbildung steht eine Tat oder ein Lebenswerk. Eine Person oder eine Gruppe vollbringen derart Erstaunliches, dass Menschen sich gerne immer wieder mit diesem Geschehen befassen, auch wenn sie selbst nicht persönlich Zeuge davon waren. Legenden sind also auch Teil eines (Personen-)Kults. Es ist ein Merkmal der Legende als Erzählform, dass sie sich über den ursprünglichen Kreis der Zeugen hinaus weit verbreitet. Legenden sind also per se ein Pflichtthema für Kommunikationswissenschaftler. Sie sind Meisterbeispiele gelungener Massenkommunikation. Ob sie auch Beispiele für intendierte Kommunikation sind, steht auf einem ganz anderen Blatt. Bei den mittelalterlichen Märtyrerlegenden (Tugend und Wunder) kann man davon ausgehen. Allerdings war auch im Mittelalter beileibe nicht nur das beliebt, was der Kirche gefiel …

Wie sehen also die Mechanismen aus, die zur Entstehung und Verbreitung einer Legende oder eines Mythos gehören? Das ist im Folgenden kurz skizziert.

4.1 Ursprung eines Mythos

Wie entsteht ein Mythos? Das ist eine ausgesprochen schwierige Frage, denn ein echter Mythos wird als solcher vermutlich erst mit zeitlichem Abstand erkennbar, wenn eine Person oder eine Handlung über lange Zeit tradiert wird, ohne an Faszination beziehungsweise Bedeutung für die Rezipienten zu verlieren. Wieder liefert König Artus ein gutes Beispiel, denn der wirkliche Ursprung dieses Mythos lässt sich schwer festmachen, auch wenn mit der schriftlichen Tradierung und Ausschmückung durch mittelalterliche Autoren wie Sir Thomas Malory (Le Morte d'Arthur, 1485) Eckpfeiler bekannt sind. Wie aber hat der Mythos die Jahrhunderte davor überstanden, denn die Geschehnisse um den mythischen König von Britannien gehen ja auf das vierte oder fünfte Jahrhundert zurück?

Bei Schöpfungsmythen liegt die Sache etwas einfacher, denn sie sind Teil einer religiösen Überlieferung, die zumindest gelegentlich auf namentlich bekannte Religionsstifter oder Autoren zurückgehen.

Interessant erscheint ein Motiv, das in Mythen immer wieder vorkommt (wie auch in der erzählenden Literatur): Der oder die Protagonisten erleben im Verlaufe der Geschichte entweder nach anfänglicher Erniedrigung eine dramatische Erhöhung durch ihren großen Erfolg (etwa Artus), oder genau umgekehrt nach großem Erfolg eine große Erniedrigung (Ikarus, Siegfried). Würde man Psychologen fragen, so würden sie vermutlich erklären, dass wir es faszinierend finden, von solchen menschlichen Entwicklungen zu hören. Sie erfüllen unser Grundbedürfnis nach Anerkennung, Bestätigung und Bewunderung. Im Mythos finden wir uns wieder — wenn wir daran glauben.

4.2 Tradierung

Reflexartige Zitierung bei passender Gelegenheit

Legenden und Mythen breiten sich durch Wiederholung aus. Immer neue Zuhörer bzw. Zuschauer erfahren so von der erzählten Tat. Zur Verbreitung dienten früher Lieder, später Bücher und Zeitungen, heute Fernsehen und Internet. Ein wesentliches Element der Legendenbildung ist ihre reflexartige Zitierung durch die Medien bei passender Gelegenheit. Durch das Zitieren einer etablierten Legende gewinnt ein Bericht über ein verwandtes Thema an Gewicht und wird spannender, weil die Legende eine gemeinsame Grundlage für Redakteur und Leser darstellt, an die der Redakteur jederzeit anknüpfen kann. So "geistert" Muhammad Ali bis heute durch die Vergleiche internationaler Schwergewichtsboxer, obwohl sein letzter unbestritten großer Kampf 1975 stattfand — und damit rund 45 Jahre her ist. Ähnlich verhält es sich mit der deutschen Boxgröße Max Schmeling.

Kontinuität

Typisch für eine beginnende Legendenbildung ist die Wiederholung der immer gleichen Handlungen oder Wesenszüge der Protagonisten. Kommunikationswissenschaftlich gesehen erfordern Legenden daher Kontinuität. So würde zum Beispiel die inzwischen anlaufende Legendenbildung um das Boxerbrüderpaar Klitschko empfindlichen Schaden nehmen, wenn beide Brüder jemals gegeneinander antreten sollten. Das Versprechen an die Mutter, genau das niemals zu tun, ist eines der Elemente der beginnenden Legendenbildung. In der Tradierung kann auch eine Ausschmückung der Legende erfolgen, wobei Übertreibungen und Details dazu dienen können, den Kern zu betonen.

Tradition

Legenden können auch als Traditionsbewahrung aufgefasst werden (Bühler/Dürig 2008). Tradition kann eine hohe Bindungskraft haben. Schließlich gilt: Wer seine Tradition vernachlässigt, verliert sein Gedächtnis. Liest man beispielsweise den Geschäftsbericht von Migros (Schweiz), so bekommt man auf unverwechselbare Weise Einblick in die historisch verwurzelten Geschäftsprinzipien und die sich daraus ergebenden Handlungsweisen. Legende und Tradition geben erzählerisch Auskunft über Herkunft und den Geist des Unternehmens oder seiner Unternehmer (Pross 1983). Umso erstaunlicher ist es, wenn kaum ein deutsches Unternehmen in seiner externen Berichterstattung hierauf Bezug nimmt. Vernachlässigen Unternehmen in ihrem kommunikativen Auftritt damit unbedacht Wertschöpfungsaspekte, indem sie ihre Herkunft hintanstellen? Oder ist ihnen die Tradition so gegenwärtig, dass sie ihren Wert gar nicht erkennen? Am ehesten ist ein Bezug zur Unternehmensgeschichte in Familienunternehmen zu bemerken. Bei Bosch etwa ist der Geist der Sparsamkeit legendär: Der Firmenpatriarch Robert Bosch habe demnach bei jeder Einstellung eines neuen Mitarbeiters eine Büroklammer fallen lassen, die er dann später wieder aufhob. Auf seine prüfende Frage: "Was habe ich aufgehoben?", kam regelmäßig die Antwort: "Eine Büroklammer". "Nein, ich habe Geld aufgehoben", so die viel zitierte Antwort von Bosch.

In einzelnen Fällen ist in jüngster Zeit eine Form der Rückbesinnung auch bei großen Aktiengesellschaften aufgefallen. Mit dem kommunikativen Rückgriff auf einen ehernen Grundsatz des Firmengründers Gottlieb Daimler, "Das Beste oder nichts", reagiert Daimler wohl auf Marktveränderungen und Einstellungen im Verbraucherverhalten (http://www.daimler.com/marken-und-produkte). Gleichzeitig wird vor dem Hintergrund von Qualitätsmängeln bei Modellen einiger Automobilhersteller die eigene Position abgegrenzt. Die Tradition dient hier dazu, Glaubwürdigkeit durch Kontinuität zu untermauern.

4.3 Rezeption

Die Legendenbildung setzt nach der Tat ein. Das erklärt, dass Personen zwar schon "zu Lebzeiten eine Legende" sein können, aber sie können durch ihr Verhalten durchaus noch Einfluss auf die Legendenbildung nehmen. Wer aber später noch etwas hinzufügen will, geht ein hohes Risiko ein. So kann Michael Schumachers Rückkehr in die Formel 1 seinen zuvor legendären Status durchaus beschädigen, denn sie entthront ihn. Durch seine aktuellen Fahrergebnisse bewegt er sich plötzlich allenfalls im Mittelfeld der Weltspitze. Für eine Legende zu wenig. Einem anderen Spitzensportler unserer Tage, dem Fußballer Franz Beckenbauer, ist es mit seinem Erfolg als Nationaltrainer bei der Fußballweltmeisterschaft in Italien dagegen gelungen, weiteren Stoff für die Legendenbildung nachzuliefern.

5 Mythos — Mehr als ein Etikett

Ein Mythos ist dann ein Mythos, wenn wir ihn als solchen sehen

Ein Mythos entsteht im Grunde dadurch, das wir ihn als solchen sehen. Als soziale Lebewesen sind wir permanent auf der Suche nach Vorbildern. Diese erfüllen einen doppelte Zweck: Zum Einen können wir uns an ihnen orientieren. Zum Anderen gibt es uns ein Gefühl der Gemeinschaft, wenn wir feststellen, dass links und rechts neben uns noch andere Individuen stehen, die bei demselben Mythos eine wohlige Gänsehaut bekommen. Mythen schaffen Gemeinschaft. Sie haben eine "stabilisierende und tröstende Funktion" (Frank1982, S. 111). Mythen sind demnach Teil eines Regel- und Werte-Systems, das Sinn und Legitimation anbietet. Frank nennt diese eine "normative Leistung des Mythos" (ebd. S 11). Salopp gesagt, ist der Mythos auf einer bestimmten Ebene eine willkommene Projektion und verrät mehr über den, der an ihn glaubt, als über den erzählten Mythos selbst.

Allein die Etikettierung reicht nicht aus

Wird der Begriff Mythos auf ein Objekt angewendet, so ist er kaum mehr als ein Etikett, das den Wunsch des Absenders ausdrückt, das Objekt aufzuwerten und zu etwas Besonderem zu machen. Ob das funktioniert, dürfte wesentlich von der Bereitschaft des Adressaten der Botschaft abhängen, an dem Objekt eine mythische Dimension wahrzunehmen. In der Praxis wird der Erfolg des Etiketts davon abhängen, welche innere Distanz der Adressat zu dem Objekt hat. Ist diese Distanz groß, so wird das Etikett eher Ablehnung auslösen. Ist die Distanz dagegen klein, könnte das Etikett als angemessen akzeptiert werden. So gesehen stiftet der "Mythos" tatsächlich Identifikation und Gemeinschaftsgefühl unter denen, die an ihn glauben. Damit wird das Objekt selbst zwar noch lange nicht wirklich zum Mythos, aber für den Adressaten gilt dann: Man hat die Welt so, wie man sie glaubt. Es ist wohl auch nicht übertrieben, wenn man sagt, dass man eine Gemeinschaft, eine Fan-Gemeinde, eine Kultur, eine Partei etc. daran erkennt, dass sie viele gemeinsame Mythen haben. Für Unternehmen bedeutet das, eine Legende oder ein Mythos lässt sich leichter für eine Gruppe von Menschen mit ähnlichen Interessen schaffen. Ob ein solches "Artificial Legend Design" aber funktioniert, bleibt fraglich. Eher ist es Praxis, dass Unternehmen "legendäre" Persönlichkeiten für sich zu vereinnahmen, um damit möglichst Teil der Legende zu werden.

Ein Fahrzeug der Marke Porsche oder ein Mercedes Silberpfeil beispielsweise können ebenso gut automobile "Mythen" sein wie — nüchterner gesehen — sehr erfolgreiche technische Errungenschaften, aber auch schlichte Momentaufnahmen einer sich permanent weiterentwickelnden Technologie. Es hängt vom Standpunkt ab, welcher Interpretation man sich anschließt.

Bei Personen muss man das Ganze wohl differenzierter sehen. Die Erfahrung lehrt, dass es tatsächlich Menschen gibt, deren Wesen und/oder Begabung in einem solchen Maß über das Durchschnittliche hinausgeht, dass wir versucht sein können, ihnen die Dimension des Mythischen zuzugestehen. Sportler, Politiker und Personen von großer geschichtlicher und/oder sozialer Bedeutung gehören vorrangig zu diesem Personenkreis.

6 Mythen und Unternehmenskommunikation

Firmenmythen als Alltagsmythen

In der Unternehmenskommunikation geht es in der Regel um "Alltagsmythen", wenn das Etikett Mythos verwendet wird. Dabei werden Bedeutungen oft vermischt: Es wird Mythos oder Legende gesagt, aber gemeint ist eine schlichte Tradition. Vor allem für die eigenen Mitarbeiter sind solche "Firmenmythen" von Vorteil, weil sie die Geschichte der Unternehmensherkunft, seiner Eigenart (Corporate Character) und seiner unverwechselbaren Merkmale erzählen. Firmen, die einmal in "einer Garage angefangen" haben, wie etwa Hewlett Packard (HP) oder die britische Radiospares (heute Electrocomponents/RS Components) liefern Beispiele dafür, wie sich Unternehmen ihrer eigenen Herkunft vergewissern: indem sie in die Vergangenheit schauen und sich den "Anfang der Legendenbildung" wieder vor Augen führen.

Mit dieser Rückversicherung bestätigen Firmentraditionen, die legendäre Züge annehmen, das Grundbedürfnis nach Herkunft, nach Identität und Gemeinschaftsgefühl (Corporate Biography).

Für die Unternehmenskommunikation dürfte relevant sein, dass sich Mythen am ehesten um Personen ranken — jedenfalls deutlich eher als um eine abstrakte Organisation. Nur durch Identifikation einer Person mit einem Unternehmen geht der Mythos teilweise auf das Unternehmen über. Allerdings gilt das nur für langjährige Führungskräfte und/oder Inhaber, die tatsächlich die Zeit haben, ihrer Umgebung einen Stempel aufzudrücken und ein Unternehmen zu prägen. Hans L. Merkle (*1913, †2000), der langjährige "F1" (1963–1984) der Robert Bosch GmbH ist ein gutes Beispiel. Er war einer der (letzten) großen deutschen Unternehmenspatriarchen und (respektvoll als "Gottvater" bezeichnet) schon zu Lebzeiten eine Legende. An der "normativen Kraft" dieser Legende hegt wohl kaum jemand Zweifel, der den Firmensitz auf der Schillerhöhe zu Merkles Zeiten auch nur ein wenig kannte. Die Legende Merkle ist auch insofern ein griffiges Beispiel, weil zu ihr typische Details gehören (die Ausschmückung): So waren rote Korrekturanmerkungen in Dokumenten ausschließlich Merkle vorbehalten. Niemand sonst nutzte diese Farbe zu diesem Zweck. Selbst das Element einer gewissen Entrückung trifft in seinem Fall zu, denn die 7. Etage der Schillerhöhe (der Sitz der Firmenzentrale bei Stuttgart) war in der Tat eine eigene Welt.

Die heutige Flut an "Mythen" und "Legenden" kann daher auf ein starkes Bedürfnis nach Unverwechselbarkeit in einer unüberschaubar vielfältig gewordenen, globalen Welt hindeuten. Zukunft braucht also Herkunft. Mythen und Legenden fassen die Herkunft in Worte. Nicht umsonst feierte eine heute finanziell und programmatisch arg gebeutelte NASA im Jahr 2009 das Jubiläum "40 Jahre Mondlandung".

Im Umkehrschluss unterminiert das Zerstören von Legenden das Herkunftsgefühl. Wie viel heute beispielsweise vom ursprünglichen "HP Way" noch übrig ist, dazu äußern langjährige Mitarbeiter von Hewlett Packard durchaus kritische Worte. Der Verlust des Unternehmensmythos von der Andersartigkeit wird hier als herber Schlag empfunden. Man kann das natürlich auch anders sehen: Die Wahl der externen Führungskraft Carly Fiorina (1999–2005 CEO von HP) kann als bewusster Entscheid für eine Person verstanden werden, die nie Teil des HP Way war und daher in der Lage war, das Beharrungsvermögen dieses Teils des Firmenmythos zu brechen (beispielsweise mit massiven Entlassungen und dem Abschaffen vieler Traditionen im Umgang mit Mitarbeitern). Für ein in wirtschaftlich schwieriges Fahrwasser geratenes Unternehmen ist das ein legitimes Interesse — wenngleich auch ein gefährliches, weil das Wir-Gefühl zahlreicher "Leistungsträger" beschädigt wird.

Sehnsucht nach Herkunft

Legende und Mythos erscheinen also als Ausdruck einer Sehnsucht nach Herkunft. Wenn Legende/Mythos und Tradition übereinstimmen, dann können sie ein echtes Asset sein, weil sie zum Wir-Gefühl von Mitarbeitern beitragen. Sie erfüllen einen Bedarf nach Bedeutsamkeit (Blumenberg 1979, S. 109). So gesehen sind Legende und Mythos für ein Unternehmen potenziell ein immaterieller Vermögenswert. Sie sind Teil des Social Capital (vgl. Piwinger/Zerfaß 2007), das zum Erfolg eines Unternehmens beitragen kann, weil sie unter anderem für Vertrauen sorgen und damit Abläufe vereinfachen und beschleunigen. Die Berufung auf Legenden und Mythen als Kristallisationspunkte für eine Eigenart des Unternehmens schafft Vertrauen, und Vertrauen ist eine Grundlage für erfolgreiche Kommunikation. Je größer und abstrakter eine Organisation ist, desto wichtiger werden daher ihre griffigen Mythen und Legenden — wohl dem, der solche hat.